von Ole Jacobs und Arne Büttner
„I am so sorry refugees, this is not Europe“ hatte jemand an die Mauer des Camps Moria geschrieben. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen: Moria, mit all seinem Elend, den Menschenrechtsbrüchen, den Hütten aus Holz und Plastik im Olivenhain, dem Asylgefängnis, den kranken Kindern – all das ist Europa und ein direktes Ergebnis der verfehlten Migrationspolitik der Europäischen Union. Moria ist Sinnbild für eine systematische Ausgrenzungs- und Abschreckungspolitik. Die Fragen nach Verantwortlichkeiten für diese Zustände und Teilhabe von Flüchtenden an europäischen Gesellschaften können beim Anblick solcher Elendslager nicht mehr weggewischt werden.
Unsere gemeinsame Reise auf Lesbos begann im März 2020 mit einem journalistischen Auftrag für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Unser Ziel war es, auf die Missstände in diesem Teil Europas aufmerksam zu machen. An einem unserer ersten Tage im Camp sprach uns Nasim an und fragte, ob wir Journalisten seien. Sie wäre auch gerne Journalistin geworden, hätte ihr Leben einen anderen Lauf genommen. Wir erfuhren, wie die Reise nach Europa Nasim mit ihren eigenen Vorstellungen vom Leben konfrontierte und in eine Situation brachte, eigene Entscheidungen fällen zu müssen – und zu können. Beeindruckt von ihrer starken Persönlichkeit und der damit verbundenen Suche nach ihrer neuen Identität im Kontext einer Fluchtgeschichte, begannen wir mit ihr zu filmen.
In unseren bisherigen Arbeiten setzten wir uns bereits mehrfach mit den Themen Migration und Flucht auseinander. So half Ole als Aktivist, im „Sommer der Migration“ 2015 Geflüchteten im Balkan Informationen über die Fluchtrouten und freien Internetzugang zu erhalten. Als Bildgestalter für den Dokumentarfilm „Lo que queda en el camino“ begleitete Arne über viele Monate eine alleinstehende Mutter, die sich mit ihren vier Kindern in der Migrantenkarawane von Guatemala durch Mexiko zur US-Grenze durchschlug.
Auch Nasim übernimmt als Mutter eine schwierige und im Kontext von Flucht und Migration wenig sichtbare Rolle: Wie andere Mütter trägt sie nicht nur ihre eigene Verantwortung, sondern die der gesamten Familie auf ihren Schultern. Zudem erschweren patriarchale Strukturen, wie sie auch in der afghanischen Community in Moria vorherrschen, Nasims Weg zu einer Gleichstellung.
Unsere Beziehung zu ihr war anfänglich geprägt von gegenseitiger Neugier und Schüchternheit. Doch genauso, wie wir Nasim vertrauten, dass sie uns Neuigkeiten aus dem Camp mitteilen und uns den Zugang zur afghanischen Nachbarschaft herstellen würde, verließ sie sich auf uns als ihre Freunde auf Lesbos. So gut es ging standen wir ihr zur Seite. Sie wiederum half uns beim Farsi-Lernen, damit wir uns besser im Camp verständigen konnten. Zeitweise belastete ihre Zerissenheit über die eigene Zukunft und ihr Familienleben unsere Beziehung erheblich.
Jedoch ist unsere Freundschaft durch viele Extremsituationen, wie zum Beispiel die Zeit der Obdachlosigkeit nach dem Brand, gewachsen. Wir ertrugen gemeinsam Hunger, Durst, Erschöpfung und Schlafmangel, Kälte und Krankheit, Streit und Versöhnung.
So verging ein scheinbar unendlich langer Sommer, der uns die Möglichkeit einer Annäherung verschaffte. Drei Menschen, die aus ganz unterschiedlichen Teilen der Erde kommen und gänzlich verschiedene Leben führen, waren neugierig, diese scheinbaren Trennlinien zu überwinden und entwickelten eine tiefe Freundschaft. Hierdurch gelang es uns, behutsam, langsam und sehr nah mit Nasim zu drehen. Acht Monate begleiteten wir sie und ihre Familie und hielten intime Momente in dieser Zeit des Umbruchs fest.
Unser Film spricht auch aus einer Widerstandshaltung gegen das westliche Klischeebild von muslimischen Frauen. Sie sind nicht die stummen Opfer, zu denen sie oft reduziert werden. Nasim ist eine Frau voller Kraft, Enthusiasmus und Humor, die für ihre Rechte, ihre eigene Zukunft und die ihrer Kinder kämpft. Menschen, die in Lagern wie Moria eingesperrt werden, haben Namen, Wünsche und Bedürfnisse. Nasim ist eine von ihnen.